[Samoilova] Die andere Front
Supermarkt und Krankenhaus sind
wohl die zueinander komplementären Schlüsselorte der Coronapandemie. Die
Mikrodramen, die sich seit Ausbruch des Virus zwischen Nudel- und Mehlregalen
abspielen, erscheinen angesichts der Aufnahmen aus Krankenhäusern in
beispielsweise Italien oder den USA wie eine absurde Parodie der eigentlichen
Katastrophe. Dies hatte die Stilisierung des Supermarktes zum
Versorgungsknotenpunkt für die Gesamtheit der Bevölkerung zur Folge. Vergessen
wird dabei, dass viele Menschen entweder nie oder zumindest nicht regelmäßig
überhaupt einen Einkauf im Supermarkt bezahlen können. Viele; das sind (eine
unvollständige Aufzählung): RentnerInnen, Alleinerziehende, Geflüchtete,
Hartz-4-EmpfängerInnen.
Für sie wird das ergänzende
Versorgungsangebot durch Lebensmittelspenden von der Tafel bereitgestellt. Insgesamt
sind etwa 1,65 Millionen Menschen darauf angewiesen.[1]
In einem der reichsten Länder der Welt stellen die Tafeln damit eine überlebensnotwendige
Ergänzung für die Grundversorgung der Bevölkerung dar. Die wirtschaftsfreundliche
Politik der letzten Dekaden hat diese Situation durch fortschreitende
Prekarisierung aller Arbeitsverhältnisse sowie durch kontinuierlichen
aggressiven Sozialabbau und die fahrlässige Inkaufnahme der u. a. daraus
resultierenden Ungleichheit signifikant verschärft. Wegen des hohen
Infektionsrisikos in den zum Teil engen Räumlichkeiten mussten jedoch seit
Beginn der Coronapandemie bereits mehr als 300 Ausgabestellen deutschlandweit
geschlossen werden. [2]
In München findet die Ausgabe deshalb nun zentralisiert auf einem
Freiluftgelände im Ubahn-Gebiet statt – dies sowohl zum Schutz der Helfenden
wie auch der TafelkundInnen, die zu einem Großteil selbst Risikogruppe
sind. Trotzdem mussten viele Freiwillige
ihr Ehrenamt aus Selbstschutz niederlegen.[3]
Im Gegensatz dazu machen junge Menschen, deren Risiko eines schweren Verlaufs
im Falle einer Ansteckung zumindest niedriger (aber eben auch nicht gleich
null) ist, nur einen Bruchteil der Ehrenamtlichen aus.[4]
Die Tafeln haben deswegen einen Hilferuf gestartet, um die Ausgabe weiter
anbieten zu können. Nach einer konsequenten Selbstisolation von 14 Tagen habe
ich mich auf den Aufruf gemeldet.
Meine erste Schicht beginnt um 11
Uhr an einem wechselhaften Dienstag und dauert viereinhalb Stunden. Wir treffen
uns an der Ausgabestelle, wo die Freiwilligen mit Schutzmasken, Handschuhen und
einer Schürze ausgestattet werden. Dazu gibt es einen Zettel mit Anweisungen.
Der Ablaufplan wird nicht kommuniziert, wir machen das, was anfällt. Vieles ist
ohnehin intuitiv, und was sich nicht sofort erschließt, wird von erfahrenen
Helfern erklärt. Wir stellen uns mit Mindestabstand hinter den Lastwägen an,
die die Lebensmittelspenden anliefern. Jede/r von uns bekommt Kisten in die
Arme gedrückt, die wir in den Ausgabebereich tragen. Gleichzeitig werden
Biertische aufgebaut, eine lange Reihe vorne, einige hinten. Dort fangen wir an,
die Lebensmittel zu sortieren. Ich bin schnell froh um meine Handschuhe, nicht
nur wegen Corona: Die Lebensmittel sind oft verschimmelt, manchmal vollkommen
unrettbar. Alles Brauchbare befreien wir vom gröbsten Schmutz und schichten es
in Ausgabekisten. Ich möchte gerne großzügig aussortieren, aber werde gerügt.
Ein bisschen Schimmel bei Karotten – einem Gemüse mit wenig Wassergehalt –
macht nichts, erklärt man mir, das passt noch. Ich empfinde hilflosen Ärger
darüber, dass hier andere Standards gelten müssen, als ich für mich in meinem
persönlichen Einkaufsverhalten ansetze. Aber ohne Pragmatismus geht es nicht. Möglichst
viele Lebensmittel sollen am Ende zur Ausgabe bereitstehen. Die Logik
erschließt sich mir sogar: Es ist besser, die Karotte zu einem Drittel
verwenden zu können, als gar nicht. Man schätzt, dass etwa 70 Prozent der
TafelkundInnen ‚ernährungsunsicher’ sind, also existentiell auf den Bezug von
Lebensmittelspenden angewiesen.[5]
Weil die meisten Großspenden von Supermärkten kommen, die der besorgte
Durchschnittsbürger in den letzten Wochen überfallartig leergekauft hat, ist
die Gefahr einer Unterversorgung jetzt vor allem für diejenigen gewachsen, die
vorher schon gefährdet waren.
Alle Helfenden achten darauf, den
Mindestabstand bei der Arbeit einzuhalten. Die Verantwortlichen überwachen die
Einhaltung der Vorgaben streng. Mehrmals ordnen wir uns neu, um allen
Anweisungen zu entsprechen. Wir sortieren etwa zwei Stunden lang, dann sind die
Lebensmittel hinter uns aufgeschichtet, nach Sorte geordnet. Bevor die
TafelkundInnen kommen, machen wir Pause. Die Helfenden bekommen selbst ein
Mittagessen, gespendet von einem örtlichen Restaurant: Spaghetti Bolognese. Ich
verzichte, wie auch ein paar andere Helfende, weil ich kein Fleisch esse. Die
Flasche Wasser, die wir ebenfalls bekommen, nehme ich aber. Ständig wird mir
meine Wahlfreiheit vor Augen geführt: Ich kann nach Schichtende nach Hause
fahren und mir eine vegane Bolognese kochen. Ich kann (im Supermarkt!) das
angeschimmelte Gemüse liegenlassen und stattdessen die frische Ware einpacken.
Ich und mein Gehalt können das, Corona hin oder her.
Zur Ausgabe bildet sich eine
lange Schlange, der Mindestabstand wird auch hier streng geprüft. Nicht alle
haben eine Schutzmaske oder Handschuhe, aber ausnahmslos jeder reicht uns
riesige Tüten über die Tische, in die wir die Lebensmittel packen. „Für wie
viele?“ fragen wir, und sie zeigen uns ihren Tafelausweis. Und dann: „Was
hätten Sie denn gerne?“ Die meisten wollen alles. Nur die Artischocken gehen
nicht gut weg. Birnen sind am beliebtesten und daher sehr schnell aus, denn von
ihnen haben wir nur ein paar Kisten. Immerhin können die KundInnen entscheiden,
welche Sorten wir Ihnen einpacken; die Menge dagegen liegt allein in unserem
Ermessen. Bei der Ausgabe bestimmen wir, wie viele Lebensmittel pro Person und
Woche auf Basis der vorhandenen Ware angemessen sind. Ich verstehe die
Notwendigkeit, empfinde es aber als entmündigend. Die Tafelarbeit ist nichts
zum Wohlfühlen. Die Verantwortung ist immens, und natürlich kann man ihr nicht
gerecht werden. Wie viele Bananen braucht eine sechsköpfige Familie? Warum habe
ich diesem Paar mehr Zitronen gegeben, als dieser Mutter, die für sich und ihre
drei Kinder ansteht? Am Schluss soll nur irgendwie für alle möglichst viel da
sein. Mir unterlaufen bei der Ausgabe so viele Ungenauigkeiten, dass ich
irgendwann nicht nur gestresst, sondern auch wütend auf mich bin. Trotz der gefühlten
Unmengen an Lebensmitteln, die wir in den Stunden zuvor sortiert haben, ist
fraglich, ob es genug ist. So oder so: Nicht von jeder Ware ist gleich viel da;
also muss damit kalkuliert werden, dass nicht alle von allem bekommen. Um dem
entgegenzuwirken, reguliert die Tafel ihre Ausgabe nicht nur nach Abholtag,
sondern auch nach Abholzeit. Wer in der einen Woche ganz früh kommen durfte,
ist in der nächsten später dran. Jeder soll irgendwie die Chance auf die
begehrten, knapperen Lebensmittel bekommen.
Die Stimmung ist angespannt. Die
Schlange scheint endlos, und schnell geht es nicht, obwohl wir im Akkord
zwischen den einzelne Kisten hin und her springen und versuchen den
Ausgabeprozess so gut es geht zu optimieren. Gleichzeitig werden die KundInnen
angewiesen, schnell weiterzugehen – um den Mindestabstand zu wahren, und um die
Ausgabe am Laufen zu halten. In den dezentralen Ausgabestellen muss das anders
gewesen sein, denke ich, entspannter; so, dass man sich mit den Leuten auch ein
bisschen unterhalten kann. Helfende, die schon länger dabei sind, bestätigen
mir meine Vermutung. Wir versuchen, mit Freundlichkeit den Druck etwas zu
mindern. Trotz aller Bemühungen entstehen Staus. Zwar packen wir die Ware ein;
aber oft schichten die KundInnen die Lebensmittel nochmal um, und das dauert.
Sie kommen für eine Woche, das Äquivalent eines Großeinkaufs, und es besteht
die Gefahr, dass Ware beschädigt oder zerdrückt wird. Möglichst soll aber sofort
zur nächsten Station aufgerückt werden. Wer denkt, es sei stressig, bei Edeka an
der Kasse Einkäufe einzupacken, sollte jetzt besser nicht zur Tafel gehen.
Ich bin ohnehin verwundert bis
besorgt darüber, wie die KundInnen ihre Spenden nach Hause bringen. Manche
kommen mit Rollkoffern oder riesigen Rucksäcken. Familien haben oft Söhne
dabei, die beim Tragen helfen. Paare kommen gemeinsam, um die Menge zu
bewältigen. Andere sind ganz allein, und einige davon haben sicherlich einen
weiten Nachhauseweg vor sich. Die KundInnen kommen ja aus dem ganzen Münchner
Gebiet. Immerhin regnet es nicht. Angesichts der akuten Versorgungsnot, die das
Leben der TafelkundInnen bestimmen, jetzt dringlicher als vor dem Shutdown,
erscheinen mir die Panikkäufe in den Supermärkten noch absurder. Mit viel gutem
Willen und Geduld vielleicht nachvollziehbar als Reaktion auf die Ungewissheit
einer Pandemie und die Herausforderungen durch die Quarantänemaßnahmen, bleibt der
unglaubliche Kontrast zu der immensen Unsicherheit und Belastung, die den
Alltag der TafelkundInnen bestimmen. Vielleicht ist das der Grund, weswegen
ausgerechnet der Supermarkt als Wohlfühlort und Normalitätsspender zum zweiten
Epizentrum dieser Katastrophe geworden ist: Was uns, die wir in Deutschland so
verwöhnt sind von einem scheinbar unerschütterlich friedlichen Alltag, von
einer harmlosen Normalität, in die wir uns jederzeit flüchten können, als
Ausnahmesituation erscheint, als Störung, ist eigentlich die Gewahrwerdung einer
kontinuierlichen, scheinbar parallel laufenden Krise, die zahllose Menschen
tagtäglich akut betraf und betrifft. Plötzlich gilt für alle: Sich mit
Lebensnotwendigem zu versorgen ist keine selbstverständliche, heimelige,
vielleicht sogar entspannende Alltagsbeschäftigung mehr. Die Möglichkeit eines
tatsächlichen Versorgungsengpasses von Supermärkten ist zwar noch nicht
eingetreten, aber im Vergleich zu früher signifikant gestiegen. Nicht (mehr) nur
die Menschen, die ihr Einkommen verlieren, auf Kurzarbeit angewiesen sind, in
die Grundsicherung rutschen, womöglich sogar gar keinen Anspruch auf
finanzielle Hilfen haben oder als Angestellte in den Geschäften arbeiten,
erleben nun, was es bedeutet, wenn der Supermarkt nicht den Inbegriff von
Normalität und Alltag darstellt, sondern akuten, mithin sogar existentiellen
Stress. Das Unwohlsein spürt jeder, auch, wer kaum (finanzielle) Auswirkungen
durch die Krise erleidet. ‚Corona‘ hebt die Trennung zwischen Supermarkt und
Tafel nicht auf, sondern akzentuiert sie. Die Tafel als Gegenort strahlt nun
noch ein bisschen greller. Vielleicht verstehen wir ihr Leuchtsignal ja diesmal
sogar – und handeln.
[1]
„Lagebericht vom 02.04.2020 der Tafeln in Deutschland“, S. 2.
URL:
https://www.tafel.de/fileadmin/media/Themen/Coronavirus/2020-04-02_Lagebericht_Tafel_Deutschland_2._Auflage.pdf,
aufgerufen am 19.04.2020.
[2]
„Übersicht vorübergehende Tafelschließungen, Stand 20.04.2020“.
URL: https://www.tafel.de/fileadmin/media/Themen/Coronavirus/2020-04-20_Uebersicht_Tafel-Schliessungen.pdf,
aufgerufen am 20.04.2020.
[3]
„Lagebericht vom 02.04.2020 der Tafeln in Deutschland“, S. 3.
URL: https://www.tafel.de/fileadmin/media/Themen/Coronavirus/2020-04-02_Lagebericht_Tafel_Deutschland_2._Auflage.pdf,
aufgerufen am 19.04.2020.
[4]
„Lagebericht vom 02.04.2020 der Tafeln in Deutschland“, S. 3.
URL: https://www.tafel.de/fileadmin/media/Themen/Coronavirus/2020-04-02_Lagebericht_Tafel_Deutschland_2._Auflage.pdf,
aufgerufen am 19.04.2020.
[5]
„Lagebericht vom 02.04.2020 der Tafeln in Deutschland“, S. 3.
URL:
https://www.tafel.de/fileadmin/media/Themen/Coronavirus/2020-04-02_Lagebericht_Tafel_Deutschland_2._Auflage.pdf,
aufgerufen am 19.04.2020.
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