[Yossarian] Kinder im Innenhof
Meine
Wohnung ist Teil einer kilometerlangen Aneinanderreihung fünfstöckiger
Reihenhäuser. Komme ich vorne zur Tür rein, habe ich den gutbürgerlichen Teil
Sendling-Westparks in meinem Rücken; das sind in (selten mehr als vier) richtige
Hände gekommene, alte Einfamilienhäuser, deren Bewohner einen grünen Daumen
haben und die einen nett grüßen, wenn sie mit dem Hund rausgehen. Wenn ich dann
zur Tür reinkomme und einmal quer durch die Wohnung gehe, stehe ich vor dem
Küchenfenster und schaue auf eine fünfzig Meter entfernte weitere Kilometerhausreihung.
Vom zweiten Stock aus kann ich zwischen zwei Häusern hindurch, über ein Stück Mauer
hinweg auch etwas Stadtautobahn sehen.
Trotz
Corona hat sich die Frequenz der dort vorbeirauschenden Autos und der Krach,
den sie tagein-nachtaus erzeugen um keinen Deut verringert. Ich sehe dort wie
ehedem das Neben- und Gegeneinanderfahren der staatlich ernannten Bundespostzerstörer
und neuerdings der Subunternehmer im Dienste der Supermarkt-Monopolisten und
denke an die Melange aus Müdigkeit und Dauerüberreizung auf Seiten derer, die
diese Konkurrenz dann nachher in den zugeparkten innerstädtischeren Straßen mit
Warnblinker und Hubkonzerten, in x-Stunden-Schichten und in Millimeterarbeit
beim Einparken und Einfädeln ohne Lackschaden miteinander ausfahren sollen. Es fahren
zur Zeit aber auch viele Privatpflegedienste und Leute, die sich – wie ich –
nicht mehr trauen, in den Öffentlichen unterwegs zu sein. Sperre ich hinter mir zu und gehe ich dann
wieder vorne raus, ist alles still und ich frage mich, ob der wahre Zweck der
Doppelhäuserreihe nicht darin liegt, die Unwirtlichkeiten, denen die Zubringer
auf den Zubringern ausgesetzt sind, im innersten Sendling-Westpark unhörbar zu
machen?
Zwischen
den beiden bewohnten ockerfarbenen Lärmschutzwänden, liegen schmale Innenhöfe,
die ich jeden Tag so mithöre und die mir oft eine Freude bereitet haben. Die
Krähen etwa, sehe ich auch heute noch
auf den Aufsätzen der Schornsteine wie in Whirlpools sitzen. Welche
Bestandteile von irgendetwas sie heute aufgeklaubt haben, auf welche Weise sie
sie transportieren und wohin sie sie stecken – ich weiß, dass sie wissen, dass
ich sie dabei beobachte oder wenigstens möchte ich glauben, dass sie das tun.
An
vielen sonnigen Tagen dachte ich bereits an den Morgenden an das unerklärte,
aber faktische Grillfest am Abend – wo
man nicht wusste, wer von den Grüßenden, Probierenden, Inspizierenden und Fläzenden
nun zu welcher der Gruppen gehörte, die da kreuz und quer im Innenhof aßen. Es
wurden Bilder und Stücke, Spieße und Neuigkeiten getauscht und spontan
Kleinigkeiten in den anliegenden Kellern gerichtet, wenn nicht gar Pläne
geschmiedet, wer wann wem sein Gefährt, seine Arbeitskraft oder sein Ohr leihen
würde. Der Krach der Stadtautobahn jedoch hebt die Stimmen so sehr an, dass es manche
mit einer Wochen Heiserkeit bezahlen. Es werden viele Fahrräder verschoben und
verbogen und zu viele lehnen sich auch an die Wäschespinne oder toben drum
herum. Sonntags finden sich die Kleidungsstücke dann in den Dreck getreten und bilden
als neuerliche Wäscheberge in den Wohnungen weitere Tellereisen der neuen Arbeitswoche
auf ihrem Weg und es wird leise laut. Stadtplätze wie dieser Innenhof sind
scheiße, schön und nützlich und liegen heute meistens hinter Mauern in
Privatbesitz (vgl. Twickel: Gentrifidingsbums oder eine Stadt für Alle,
2010)
Der
hiesige Hausmeister ist kein Don Quichotte, deswegen findet in den Höfen Ballsport
statt. Ich habe sogar die Vermutung, dass er es war, der der
Innenhofgesellschaft einige Bierbankgarnituren besorgt hat. Dennoch sind die
„Fußballspielen im Hof verboten!“-Schilder, an denen sein gelassen-gemütliches Leise-Etwas-Gängeln
vorbeiführt, in tadellosem Zustand, denn das Imperium hat Geduld und spitze
Finger: Die Reihenhäuser wurden hier von der Heimbau Bayern Mitte des
Jahrhunderts als Arbeiterwohnungen errichtet, doch zumindest in dem von mir
mitbewohnten Gebäude gehören einige Wohnungen auch kleineren Vermietern, deren
Besitz über mehrere Häuser verstreut ist. Wenn über mir oder unter mir ein
Nachbar wechselt, erkenne ich das hin und wieder an der akustischen
Allgegenwart des Schlagbohrers – wenn sich einige Vermieter den Umstand, dass
eine Wohnung einmal komplett leersteht, für Sarnierungen und Mieterhöhungen zu
Nutze machen. Die Heimbau Bayern findet das dufte:
Die Heimbau Bayern GmbH ist ein
traditionelles Münchener Wohnungsunternehmen [und das heißt einiges! – nur was
genau?] In seiner jetzigen Form und Ausrichtung besteht das Unternehmen zwar
erst seit 1994, die Anfänge der Heimbau Bayern GmbH reichen jedoch zurück bis
ins Jahr 1919. Als ehemals gemeinnütziges Wohnungsunternehmen stammt ein
wesentlicher Teil des heutigen Wohnungsbestandes aus der Zeit, als das
unternehmerische Handeln noch allein durch die Prinzipien der Gemeinnützigkeit
geprägt war. [sowas aber auch!] Aus diesem Grund verfügt die Heimbau Bayern
GmbH [leider] auch noch heute über etwa 750 Sozialwohnungen. Neben einigen sehr
kleinen Wohnanlagen in oberbayerischen Gemeinden konzentriert sich der
Wohnungsbestand der Heimbau Bayern GmbH auf München. Größere Wohnanlagen
befinden sich in den Stadtteilen Neuaubing, Laim, Sendling, Giesing, Berg am
Laim und Haidhausen. Kleinere [schmucke] Anwesen liegen im Westend, in
Neuhausen und in Schwabing. Seit den 90er Jahren beschränkt sich die Heimbau
Bayern GmbH bei neuen Aktivitäten [endlich] auf den freifinanzierten Wohnungsmarkt.
Der Fokus der Heimbau Bayern GmbH liegt hierbei vor allem darauf,
Bestandswohnungen zu erhalten und zukunftsfähig zu machen sowie durch
innovative Bauvorhaben neuen Mietwohnraum zu erschließen. Im Laufe der letzten
Jahre hat die Heimbau Bayern GmbH beispielsweise über 2500 Wohnungen
modernisiert [und endlich Schluss mit den grassierenden Billigmieten gemacht]. Dabei
wurden vor allem ältere Bestandsimmobilien auf den neusten Stand der Heizungs-
und Warmwassertechnik gebracht. Außerdem wurden viele Wohneinheiten durch den
Anbau eines Balkons aufgewertet [Auch wenn das Ding am Schluss kaum einen
Nutzen für irgendwas hat, weil man darauf sein eigenes Wort darauf nicht
versteht und die Wäsche rußt, wenn man sie runter nimmt, weil sie während des
Trocknens nebenbei auch Feinstaub von der Straße gefiltert hat, so kann die
Haimbau für einen Balkon doch immerhin einige Quadratmeter extra berechnen und
dann eine feinere Miete verlangen] (vgl.
http://www.heimbau-bayern.de/unternehmen/
aufgerufen am 09.04.20)
Die
Deutschen hier nutzen die Wäschespinne kaum; sie trocknen ihre Klamotten
zumeist in den Wohnungen oder auf den Balkonen. Vor Ausbruch der Corona-Krise saß
ich einmal mit den beiden anderen am Küchentisch und wir beschlossen, dieses
Jahr im Sommer einmal die anderen Parteien im Haus zusammenzutrommeln und ihnen
vorzuschlagen, mit uns doch auch einmal runter zu den Anderen zum Grillen zu
gehen.
Vor
einigen Tagen kam ich von einem Besuch bei meiner Lebenspartnerin zurück nach
Sendling-Westpark. Ich trug einen Fahrradhelm aber keinen Mundschutz und bog in
den Innenhof ein. Auf dem Weg zu den Fahrradständern, sah ich zwei Männer etwa
gleichen Alters und eine ebenso junge Frau, die gerade einen kleinen
Einweg-Grill befeuerten. Als ich mich näherte, spannten sich Körper und
Gesichter der beiden an und sie wichen langsam etwas in Richtung Kellerabgang
zurück, während die Frau einen Schritt in die andere Richtung, auf den Rasen
machte und anfing etwas zu tun, dass nach Allein-spazieren-gehen aussah. Ich
ertappte mich derweil bei dem Gedanken daran, ob die drei dort auch tatsächlich
Geschwister seien und ob das wirklich noch die Wohnungsgemeinschaft sei, wie
sie jetzt gerade noch so erlaubt ist. Ich fuhr vorbei und zur Begrüßung
murmelten wir alle peinlich berührt irgendetwas Unverständliches.
Wenn
nicht gerade ein Schlagbohrer geht, oder sich das Nachbarspärchen darüber
fetzt, wer von beiden nun Schuld an dem eingetretenen Wasserschaden hat, herrscht
in den Innenhöfen für gewöhnlich
neben dem Rauschen der Stadtautobahn auch immer Kinderlärm in allen mehr oder minder
bekannten Facetten. In den knapp zehn Jahren, die ich hier lebe, musste
ich zuhören und tat es auch gern und habe von einigen der Charaktere ein recht
genaues Bild bekommen, ohne dass ich den Stimmen unter den zahlreichen Kindern
in den Innenhöfen je Gesichter hätte zuordnen können: [Stimme einer kleinen
Schwester, quer über den Rasen durch alle Gassen und in jeden Winkel] „Matteeo!
Matteeeoo! Matteo? Matteo? Maaatteoo!“ [Wortreiche Kindertraube]: „Matteos
Papa, Matteos Papa, sie müssen bitte mitkommen, Matteo wirft mit Steinen!“ [Wortreiche
Kindertraube in leicht anderer Zusammensetzung] „Matteos Mama, darf Matteo …
kann Matteo heute…, warum muss Matteo…“
An
dem Wochenende, als Söder die bayerische Kontaktsperre zwei Tage vor den
anderen Bundesländern verkündete, haben die Kinder im Innenhof noch gespielt,
während man schon keinen Erwachsenen mehr dort sah. Wenn ich jetzt, was ich in
den vergangenen Wochen viel tue, aus meinem Zimmer in den Hof schaue, spielen
dort selten einzelne Kinder unter Anleitung, aber nie welche zusammen. Mein Vater
erzählte mir unlängst, dass sei bei ihnen anders. Ihre Nachbarn hätten die
Kinder, nachdem sie ihnen eingeschärft hatten, dabei unbedingt den
„Corona-Abstand“ einzuhalten, zum Spielen nach draußen geschickt. Als sie, meine
Eltern, nach ihrem Spaziergang dann wieder um die Ecke gekommen seien, hätte
sie diese Kinder aber dennoch in einem einzigen wilden Durcheinander spielen
sehen.
Während
mir diese Anekdote erzählt wurde, fragte ich mich, was wohl geschehen wäre,
wenn die Kinder die Erwachsenen bemerkt hätten. Ich stelle mir vor, dass dann
einer „Parole Corona“ ruft und alle stöben in Sekundenschnelle vom imaginären
Mittelpunkt des Haufens in alle Richtungen nach außen, bis ein jeder an den
Punkt des Erreichens eines leeren Zweimeterradius um sich herum gekommen ist,
worauf alle wie versteinert stehen bleiben, bis dann – je nachdem wie viel der oder
die Große von dem vorangegangenen gesehen hat – entweder warme Worte kommen, (wie
schön jeder mitgemacht hat) oder ein Donnerwetter und harte Polizeigriffe für
jeden einzelnen, oder ein Kurz‘sches „Rührt euch (ein bisschen)!“
Es sähe aus wie eine dystopische
Kreuzung aus realsozialistischem Sportfest und Kinderselbstanimation im
Robinsonclub und wäre dann – mein Tagtraum – eine gewollte Verfremdung und
Verballhornung dessen, was Jürgen Link unlängst in einem lesenswerten
Blogeintrag unter dem Titel „Nicht atomisieren lassen!“ als Tendenz unter Erwachsenen[?]
beobachtete:
Als Idealtyp erscheint eine
Platzierung aller Individuen mit 1 oder 2 Meter Abstand zu allen Vorder-,
Hinter- und Seitenleuten plus Head down aufs Smartphone, was eigentlich Head up
zum Notstandsregulator bedeutet, dessen Regeln es diszipliniert zu befolgen
gilt – ohne Seitenblicke und Seitenworte! Eine solche „Stimmung“ der Massen wäre
allerdings die passive Bereitschaft zur Unterwerfung unter eine
Notstandsdiktatur als Normalisierungsdiktatur, wie sie angeblich mit großem
Erfolg in China vorexerziert wird. Man wundert sich über manchen Applaus dafür
hierzulande.
In
seinen normalismustheoretischen Thesen zur Corona-Krise setzt Link dagegen:
Gerade jetzt heißt es sich
eigenständig zu as-sociieren, sich die bestmöglichen Informationen, gerade auch
aus der gesamten Welt, zu besorgen und zu verbreiten. Auf verschiedenen Feldern
könnten sich in dieser Richtung „Basisdemokratische Dringlichkeits-Aktionen“
(BDDA) entwickeln. Wegen der halben oder ganzen Ausgangssperren bleibt das
Internet als Kommunikationsmedium. Aus dem dortigen chaotischen Salat schält
sich zum einen der hegemoniale notständische Mainstream heraus, dessen Stärke
nicht zu unterschätzen ist (was wäre ohne SPIEGELonline usw.?) – dennoch gilt
es, ein eigenes System wichtiger Nachrichten dagegen zu setzen. (vgl. https://zeitschrift-kulturrevolution.de/corona-krise
zuletzt eingesehen am 09.04.2020)
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